Die Zukunft gestalten
Leitlinien für die Entwicklung und Profilierung der katholischen Schulen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart



Leitlinie 1
Katholische freie Schulen stehen für ein personales, vom biblischen Menschenbild inspiriertes Bildungsverständnis.
Bildung gilt als eine der zentralen gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Mit diesem Thema befassen sich seit vielen Jahren nicht mehr nur Pädagogen, sondern auch Ökonomen und Experten in Wirtschaft und Industrie. Dabei lassen sich deutliche Tendenzen feststellen, Bildung auf Aspekte der ökonomischen Nützlichkeit und Verwertbarkeit zu reduzieren. Die Fragen danach, was der Einzelne braucht und was seiner persönlichen Entwicklung dient, geraten dabei gegenüber wirtschaftlichen Interessen oft in den Hintergrund.
Auch wenn sie von außen unter Druck gesetzt wird und der Markt sie zu instrumentalisieren versucht, darf die Schule – und zumal die katholische Schule – dieser technokratischen und ökonomischen Logik nicht nachgeben. Einer Verengung des Bildungsbegriffs auf eine ökonomisierte Perspektive stellen katholische Schulen das Leitbild eines christlich inspirierten Bildungsverständnisses und einer am biblischen Menschenbild orientierten Schule gegenüber. Für dieses Bildungsverständnis ist zuallererst das Kind, der Jugendliche oder junge Erwachsene als Person wichtig.
Verantwortliche an katholischen Schulen folgen der Leitidee, den Schülerinnen und Schülern zu helfen, dass ihr Leben gelingt. Es steht der Mensch als Abbild und Geschöpf Gottes im Mittelpunkt – vor aller Leistung!
Erst in einer Atmosphäre des Sich-Angenommen-Wissens können sich Schülerinnen und Schüler in Freiheit entwickeln und ihre Begabungen auf fachlicher und personaler Ebene voll entfalten. Aus diesem Menschenbild heraus ergibt sich eine klare Prioritätensetzung für alle Fragen von Schulkultur, Schulentwicklung und Schulorganisation: Auch wenn katholische freie Schulen staatliche Ersatzschulen sind und sich damit den gesamtgesellschaftlichen und ökonomischen Erwartungen nicht ganz entziehen können, bilden sie dennoch erfahrbare „Anders-Orte“ im Sinne von „Lebensorten“, an denen junge Menschen in einem Klima von Freiheit und Verantwortung zu selbstbewussten und beziehungsfähigen Persönlichkeiten heranreifen können.
Leitlinie 2
Katholische freie Schulen unterstützen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf der Suche nach einem Sinn und einer tragenden Gestaltungsform für ihr Leben.
Viele Menschen erleben heute die Suche nach ihrer eigenen Identität als chancenreich und gleichzeitig riskant. Dabei treffen sie immer weniger auf verbindliche, identitätsstiftende und haltgebende gesellschaftliche Strukturen im Sinne allgemein anerkannter Wertvorstellungen und Lebensmodelle. Durch die nachlassende Bindungskraft der katholischen Kirche sind auch viele Christen in dieser Suche heimatlos geworden.
Diese Ausgangslage stellt eine große Herausforderung und Chance für katholische Schulen dar. Sie sind oftmals Orte einer erstmaligen Begegnung mit dem Evangelium und der Erfahrung gelebten Glaubens. Hier erleben Schülerinnen und Schüler, Eltern und alle Mitarbeitenden den christlichen Glauben nicht als verpflichtende Norm oder als formale Eingangsvoraussetzung, sondern lernen ihn als sinnstiftend und lebensfördernd kennen.
Immer, wenn es um Fragen der Haltung, Einstellung und des sinnvollen Handelns geht, erleben sie den christlichen Glauben auch als eine kritische Instanz gegenüber gesellschaftlichen Strömungen, Überzeugungen, Bewegungen und Weltanschauungen.
Entscheidend ist, dass das christliche Verständnis vom Menschen im Schulalltag deutlich erkennbar ist. Dies gilt vor allem im täglichen Umgang miteinander, in einer kollegialen Arbeitsatmosphäre, in einer wertschätzenden Lernkultur sowie einer entwicklungsfördernden Leistungsrückmeldung, im Ringen um sachliche Lösungen und im Umgang mit Versagen, Fehlern und Konflikten.
Im Hinblick auf die religiöse Bildung und Beheimatung von Schülerinnen und Schülern, Eltern und Mitarbeitenden unterstützen katholische Schulen das Fragen nach Sinn nicht nur im Unterricht. Zudem fördern sie Reflexion und Selbstreflexion sowie Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Sie schaffen Raum für Stille, Muße und Meditation. Sie führen in Gebet, Gottesdienst und Fest in traditionelle christliche Symbole und Rituale ein und ermöglichen, eigene Ausdrucksformen des Glaubens zu entwickeln und zu leben.
Besonderes Augenmerk muss dabei auf die Personalgewinnung und -entwicklung gerichtet werden. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten neben einer fundierten Fachausbildung auch die Bereitschaft mitbringen, sich selbst mit Fragen des christlichen Welt- und Menschenbildes auseinanderzusetzen.


Leitlinie 3
Katholische freie Schulen sind Schulen in ökumenischer Offenheit. Sie sind Orte und Lernorte der interkulturellen Begegnung und des interreligiösen Dialogs.
In den Jahrzehnten nach dem II. Vatikanischen Konzil ist die ökumenische Verständigung zu einem selbstverständlichen Teil christlicher Lebens- und Glaubenspraxis geworden. Viele Schülerinnen und Schüler an katholischen freien Schulen gehören einer anderen christlichen Konfession an. Oft steht hinter einer Schulanmeldung auch die bewusst getroffene Entscheidung von Eltern, dass ihr Kind an einer katholischen freien Schule einen Ort findet, an dem die Frage nach Gott gestellt und wachgehalten wird.
Katholische freie Schulen verstehen sich als Schulen in ökumenischer Offenheit. Sie unterstützen bewusst konfessionell-kooperative Lernprozesse nach dem Grundsatz: „Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden“. Sie helfen den Schülerinnen und Schülern, sich mit dem eigenen Glauben und der eigenen Konfession auseinanderzusetzen und gleichzeitig dialogfähig zu werden. Diese Grundprinzipien gelten auch für die interkulturellen und interreligiösen Lernprozesse. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese als Herausforderungen auch für katholische freie Schulen erwiesen.
Für den Dialog mit Angehörigen anderer Religionen bedarf es eines adäquaten Glaubenswissens und der Fähigkeit, über den eigenen Glauben Auskunft zu geben. In diesem Zusammenhang sind katholische freie Schulen wichtige Orte, an denen junge Menschen die Möglichkeit bekommen, sich eine fundierte religiöse Grundbildung zu erarbeiten und eine positive Haltung zum christlichen Glauben zu entwickeln.
In dem Maße, in dem es gelingt, den Schülerinnen und Schülern sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben zu ermöglichen, wird es ihnen auch gelingen, Perspektiven für einen fruchtbaren Dialog mit Menschen aus anderen Kulturen und mit anderen (religiösen) Überzeugungen zu entwickeln.
Ziel dieser Auseinandersetzung muss sein, Schülerinnen und Schüler auf ein Zusammenleben mit Menschen anderer Prägung, Herkunft und Überzeugung in versöhnter Verschiedenheit vorzubereiten und dieses Zusammenleben schon in der Schule zu realisieren.
Träger und Schulleitungen katholischer freier Schulen nehmen daher bewusst auch Schülerinnen und Schüler anderer Konfessionen, Religionen und ohne Bekenntnis auf. Eine unabdingbare Voraussetzung hierfür ist die Bereitschaft aller, sich auf einen ernsthaften Dialog einzulassen. Gleichzeitig bedeutet diese Offenheit auch, dass die Schulen über Konzeptionen verfügen, wo und wie dieser Dialog geschehen und wie er gestaltet werden kann.
Auch Kinder aus anderen Religionen haben an katholischen freien Schulen die Chance, ihre eigene Religion kennenzulernen und zu reflektieren, und brauchen hierfür Gesprächspartner und Glaubensvorbilder.
Leitlinie 4
Katholische Schulen betrachten Einzigartigkeit und Vielfalt als Geschenk und Bildungsgerechtigkeit als verpflichtende Aufgabe.
In vielerlei Hinsicht sind in der gegenwärtigen Gesellschaft die Bildungschancen von Kindern ungleich verteilt. Historisch gesehen waren katholische freie Schulen – besonders als Schulen in Ordenstradition
– immer in besonderer Weise Bildungsorte für benachteiligte und am Rand der Gesellschaft stehende Kinder und Jugendliche.
Auch heute noch sind die Bildungschancen für Kinder in Deutschland stark abhängig von der wirtschaftlichen und sozialen Situation ihrer Eltern. Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung. Armuts- und Reichtumsberichte
thematisieren in besonderer Dramatik die Formen versteckter Benachteiligung und Armut in der Gesellschaft. Katholische Schulen nehmen die Einzigartigkeit und Vielfalt aller Schülerinnen und Schüler als Geschenk,
die Förderung ihrer individuellen Anlagen und Fähigkeiten als Aufgabe wahr.
So verschieden die Schülerinnen und Schüler sind – alle besitzen sie die gleiche Würde, haben eine Bedeutung und Aufgabe für die Welt und für unsere Gesellschaft. Unter anderem an dieser Haltung entscheidet
sich die Glaubwürdigkeit eines christlichen Bildungsangebotes für die Gesellschaft.
In diesem Sinne fühlen sich katholische freie Schulen insbesondere verpflichtet gegenüber „den Armen, Kleinen und den vielen, die auf der Suche nach der Wahrheit sind.“
Dies verlangt von ihnen, Vorreiter zu sein, wenn es beispielsweise darum geht, adäquate schulische Angebote für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen und speziellen Förderbedarfen anzubieten oder Kinder aus Familien aufzunehmen, die von Armut, Flucht und Vertreibung betroffen sind. Dem Gedanken der Inklusion sind katholische freie Schulen deshalb in besonderem Maße verpflichtet.
Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen von Armut in der Gesellschaft und die Frage, wie wir allen Kindern ein gemeinsames Lernen und Leben ermöglichen, ist ein Leitmotiv für die Arbeit aller katholischer freier Schulen: Wer in besonders schwierigen, armen, prekären oder bedürftigen Verhältnissen lebt, darf nicht als Störfaktor oder Hindernis, sondern muss als der Wichtigste von allen betrachtet werden und im Zentrum der schulischen Aufmerksamkeit und liebevollen Fürsorge stehen.
Es ist von Bedeutung, dass katholische Schulen auch nach außen erkennbar machen, dass sie ein Ort für alle Schülerinnen und Schüler sind.


Leitlinie 5
Katholische freie Schulen sind Lernorte einer verantwortungsbewussten Weltgestaltung.
Katholische freie Schulen werden auch durch die globalen Gefahren und Bedrohungen in ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag herausgefordert. Es wächst das Bewusstsein, an einem kritischen Punkt der Erdgeschichte zu stehen, an dem die Menschheitsfamilie ihren gemeinsamen Weg in ihre Zukunft wählen muss. Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung sind zentrale Bildungsthemen an katholischen freien Schulen. Das Leben auf der Erde ist gefährdet durch die Formen von Produktion und Konsum, die zu einer Überlastung der ökologischen und sozialen Systeme und zu vielen Krisen, gewalttätigen Konflikten und großen Migrationsbewegungen führen. Das Wort von Papst Franziskus, „Diese Wirtschaft tötet“, steht für diese globale Gefährdung.
Katholische freie Schulen stellen in diesem Kontext eine Gelegenheit und Chance dar, die Gegenwart der Gesellschaft und der Menschheit zu verstehen und ihre Zukunft zu entwerfen. Sie sind Orte einer Erziehung und Bildung, die dafür sorgen kann, ein neues Bild vom Menschen, vom Leben, von der Gesellschaft und von der Beziehung zur Natur zu verbreiten. Katholische freie Schulen bieten Erfahrungsräume an, in denen Schülerinnen und Schüler, Eltern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lebensförderliche Haltungen entwickeln und Verantwortung für ein menschenwürdiges Leben, für Frieden und Gerechtigkeit auf der Erde einüben.
Achtsamkeit, Ehrfurcht, Bescheidenheit, Behutsamkeit, Mitgefühl, Dankbarkeit und Verantwortung sind Haltungen, die ein gemeinsames ethisches Fundament bilden, das den konkreten Schulalltag prägt und
so den jungen Menschen auf ihrem Weg in eine verantwortungsvolle Rolle in Familie, Beruf und Gesellschaft Orientierung und Richtung gibt.
Es ist unsere bescheidene Überzeugung, dass das Göttliche und das Menschliche einander begegnen in den kleinsten Details des nahtlosen Gewandes der Schöpfung Gottes, sogar im winzigsten Staubkorn unseres Planeten.
Leitlinie 6
Katholische Schulen sind Netzwerke christlicher Bildung und eine solidarische Gemeinschaft.
Um den oben beschriebenen Herausforderungen zu begegnen und mit ihnen umgehen zu können, besitzt die Stiftung Katholische Freie Schule mit ihren mehr als 90 Schulen aus allen Schularten und -formen einzigartige Chancen. Die Einrichtungen können sich über bestehende Institutionsgrenzen hinweg in ihrer Verschiedenheit kennenlernen, sich vernetzen, Entwicklungen gemeinsam vorantreiben und voneinander lernen.
In jeder Schule finden sich zahlreiche pädagogische, organisatorische, systemische und finanzielle Problemlösungen und Ressourcen, die auch für andere Schulen von Bedeutung sein können. Die (bildungs-)politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen machen verstärkt die Notwendigkeit deutlich, die Ressourcen und die Professionalität zu nutzen, die in den verschiedenen Einrichtungen der Stiftung vorhanden sind.
Damit wird die Leitungsaufgabe an katholischen freien Schulen immer mehr zu einer Vernetzungsaufgabe, die auch strategische Partnerschaften sowohl innerhalb als auch außerhalb des katholischen und diözesanen Bereichs in den Blick nimmt.
Gleichzeitig eröffnet diese Struktur die Chance, solidarisch füreinander einzustehen, wo finanzielle und personelle Ressourcen knapp werden. Alle Schulen innerhalb der Stiftung sind ein Solidarverbund, der zur Unterstützung aufgefordert ist, wenn einzelne Schularten oder Schulformen durch Druck von außen gefährdet werden.
